BGH: Deutscher Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte teilweise unwirksam, soweit dieser § 104 InsO widerspricht
Urteil des BGH:
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem aktuellen Urteil vom 09.06.2016 (Az. IX ZR 314/14) entschieden, dass vertragliche Abrechnungsvereinbarungen, die auf den Regelungen des vom Bundesverband Deutscher Banken publizierten Musters „Deutscher Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte" beruhen, teilweise unwirksam sind, soweit sie den Bestimmungen in § 104 Insolvenzordnung (InsO) widersprechen.
Der Leitsatz des BGH-Urteils lautet: „Treffen Parteien von Aktienoptionsgeschäften, die dem deutschen Recht unterliegen, für den Fall der Insolvenz eine Abrechnungsvereinbarung, die § 104 InsO widerspricht, ist diese insoweit unwirksam und die Regelung des § 104 InsO unmittelbar anwendbar.“
In dem Verfahren ging es im Wesentlichen um die Auswirkungen der Insolvenz einer Partei bei zuvor geschlossenen Aktienoptionsgeschäften, deren Einzelabschlüssen unter anderem der Deutsche Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte zugrundelag. Die Klägerinnen räumten der Beklagten Kaufoptionen für Aktien dergestalt ein, dass die Beklagte das Recht hatte, zu einem bestimmten Stichtag eine bestimmte Anzahl von Aktien zu einem bestimmten Kaufpreis (Ausübungspreis) zu erwerben. In der Folgezeit änderten die Parteien die Optionsgeschäfte mehrfach durch Nachtragsvereinbarungen in Bezug auf die Zahl der veroptionierten Aktien, den Optionspreis und den Stichtag. Zum Zeitpunkt des Insolvenzantrags der Beklagten war zwischen den Parteien jeweils noch ein Optionsgeschäft offen.
Der Deutsche Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte (Rahmenvertrag) knüpft in seinen Nrn. 3, 7, 8 und 9 für die Berechnung des Ausgleichsanspruchs an den Zeitpunkt der Insolvenzantragstellung an (Nr. 9 Abs. 1 iVm Nr. 8 Abs. 2). Hierauf berief sich die Beklagte und verweigerte die Herausgabe der verpfändeten Aktien.
In § 104 InsO (hier: Absätze 2 und 3), der Bestimmungen über die Abwicklung unerfüllter Verträge über Finanzleistungen nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens enthält, ist die sofortige Beendigung von Verträgen über Finanzleistungen im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung und damit die Saldierung sämtlicher unter einem Rahmenvertrag zusammengefasster Finanzleistungen, wie sie vor allem internationalen Verträgen vereinbart ist, gesetzlich verankert. Dem Insolvenzverwalter wird danach das Recht zur Auswahl und somit die Möglichkeit genommen, über § 103 InsO die für den Schuldner ungünstigen Geschäfte zu beenden mit der Folge, dass die Bank wegen ihres Schadensersatzanspruchs auf eine einfache Insolvenzforderung verwiesen ist, und an den für die Masse günstigen Geschäften festzuhalten („cherry-picking“).
Nach der in § 104 Abs. 3 Satz 2 InsO vorgesehenen Abrechnung der gegenseitigen Ansprüche im Abwicklungsverhältnis (sog. Netting) ist der Ausgleichsbetrag bei Vertragsbeendigung durch einen Vergleich des vereinbarten Preises mit dem Markt- oder Börsenpreis zu einem näher bestimmten Zeitpunkt nach Verfahrenseröffnung zu ermitteln (regelmäßig der zweite Werktag, spätestens der fünfte Werktag).
Im vorliegenden Fall hat der BGH in Anwendung des § 104 Abs. 3 Satz 2 InsO für die Berechnung der Ausgleichsforderung der Bank in Ermangelung einer anderweitigen Vereinbarung der Parteien auf den zweiten Werktag nach Verfahrenseröffnung abgestellt und die Sache an das Oberlandesgericht Frankfurt zurückverwiesen, das insoweit eine Neuberechnung des Anspruchs vorzunehmen hat.
Nach der Begründung des bereits veröffentlichten Urteils ist der Senat bei seiner Entscheidung davon ausgegangen, dass das in § 104 InsO geregelte Ausgleichsregime im Insolvenzfall gegenüber dem Rahmenvertrag vorrangig ist. Dies ergebe sich aus § 119 InsO, wonach Vereinbarungen, die wie die Streitgegenständliche im Voraus die Anwendung von § 104 InsO beschränken, unwirksam sind. Der BGH hält die im Rahmenvertrag enthaltene Abrechnungsvereinbarung jedenfalls für unwirksam, soweit die darin vorgesehene Berechnungsmethode für den Ausgleichsanspruch des Gläubigers im Insolvenzfall von § 104 Abs. 2 und 3 InsO abweicht.
Es sei widersprüchlich, so der BGH weiter, einerseits in § 104 Abs. 2 InsO die Masse zu schützen und dem Insolvenzverwalter kein Wahlrecht zuzubilligen und andererseits individualvertragliche Vereinbarungen mit vom Gesetz zu Lasten der Masse abweichender Berechnungsweise des Ausgleichsanspruchs zuzulassen. Im Übrigen stellt der BGH klar, dass die ausdrückliche Nennung der Rahmenverträge über Finanzdienstleistungen in § 104 Abs. 2 Satz 3 InsO nicht die Möglichkeit eröffne, über den in dieser Vorschrift vorgesehenen Regelungsrahmen hinaus Abweichungen von § 104 InsO vertraglich vorzusehen.
Praktische Relevanz:
Vertragliche Abrechnungsvereinbarungen („Nettingvereinbarungen“) werden in zahlreichen Rahmenverträgen verwendet. Sie sind Musterklauseln, die nicht nur in dem vom BGH bewerteten Deutschen Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte, sondern in dieser oder leicht abweichender Form auch in weiteren Mustervertragswerken verwendet werden. Diese Musterklauseln sind etwa auch in diversen Musterrahmenverträgen vorgesehen, wie sie beispielsweise von der International Swaps & Derivatives Association, Inc. (ISDA) erstellt werden. Insoweit ist davon auszugehen, dass die vom BGH nunmehr als unwirksam erachteten Vertragsklauseln in einer großen Zahl von Verträgen verwendet werden, welche im Insolvenzfall ggf. der deutschen Insolvenzordnung unterliegen.
Offizielle Reaktionen auf das Urteil:
Welche der zahlreichen von den Finanzmarktakteuren verwendeten Nettingvereinbarungen in den Anwendungsbereich des jüngsten Urteils fallen, kann nicht konkret abgeschätzt werden. Fest steht jedoch, dass sich solche Vereinbarungen an § 104 InsO messen lassen müssen.
Das Bekanntwerden der Entscheidung hat in kürzester Zeit ein erhebliches Echo sowie eine Welle ablehnender Reaktionen hervorgerufen.
So haben etwa das Bundesministerium der Finanzen und das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz bereits am Tag der Urteilsverkündung (09.06.2016) eine gemeinsame Stellungnahme veröffentlicht. Darin teilen die Ministerien mit, dass die Bundesregierung unmittelbar gesetzgeberische Maßnahmen für eine kurzfristige Klarstellung oder Präzisierung der Insolvenzordnung auf den Weg bringen wird, falls sich ergeben sollte, dass das Urteil über den Einzelfall hinaus Auswirkungen auf die Akzeptanz des Rahmenvertrags im Markt und von Aufsichtsbehörden hat. Es solle damit sichergestellt werden, dass die Bundesrepublik Deutschland auch weiterhin zu den Rechtsordnungen gehört, in denen Finanztermingeschäfte wirksam in die üblichen Rahmenverträge eingebunden werden können.
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hat neben der Unsicherheit über den Anwendungsbereich des Urteils auf erhebliche Verunsicherungen über mögliche europarechtliche Konsequenzen (im Hinblick auf spezielle europarechtliche Vorgaben im Umfeld vertraglicher Nettingvereinbarungen) hingewiesen. Dies könne eine erhebliche Störung der Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes und damit eine starke Verunsicherung der Finanzplatzakteure zur Folge haben. Marktteilnehmer könnten vor einem Abschluss von Transaktionen unter den bestehenden Rahmenverträgen zurückschrecken, was insbesondere deutsche Unternehmen und Institute betreffen könnte, die als Vertragspartner für ausländische Finanzmarktakteure nicht mehr in Frage kämen.
Eine besondere Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte sieht die BaFin ferner darin, dass ein abrupter Stillstand der laufend und in hoher Frequenz abgeschlossen Transaktionen unter den Rahmenverträgen aufgrund der Rechtsunsicherheit derzeit nicht abschätzbare Konsequenzen für die Liquidität der Märkte und die Infrastrukturen der Finanzmärkte haben könnte, was wiederum zu erheblichen Verwerfungen an den Kapitalmärkten und damit zu einer signifikanten Störung der Finanzmarktstabilität führen könnte.
Vor diesem Hintergrund hat die BaFin im Benehmen mit der Deutschen Bundesbank als präventive Sofortmaßnahme noch am Tag der Urteilsverkündung eine Allgemeinverfügung nach § 4a Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG) zur Sicherstellung der Rechtssicherheit von Nettingvereinbarungen im Anwendungsbereich des deutschen Insolvenzrechts, befristet bis einschließlich 31.12.2016, erlassen.
Dort ist festgelegt, dass das Netting unter den bestehenden Rahmenverträgen, die in den Anwendungsbereich der Verfügung fallen, bis auf Weiteres unverändert gemäß dem Wortlaut der vertraglichen Vereinbarungen zu erfolgen hat. Ziel der Allgemeinverfügung ist es insoweit, die beschriebenen potentiellen negativen Auswirkungen auf die Finanzmarktstabilität zu verhindern und das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte wiederherzustellen, um Marktstörungen und Marktversagen abzuwenden.
Unsere Einschätzung:
Die zahlreichen ablehnenden Reaktionen auf das gegenständliche Urteil des BGH bereits vor der Veröffentlichung der Urteilsgründe belegen deutlich die erhebliche praktische Relevanz dieser Entscheidung..
Zwar hat die BaFin mit dem Erlass ihrer Allgemeinverfügung überaus schnell reagiert, um negative Auswirkungen des Urteils auf den Finanzmarkt zu verhindern. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es trotz dieser Sofortmaßnahme zu einer nicht unerheblichen Verunsicherung der beteiligten Finanzmarktakteure kommt, bis der Gesetzgeber die Auswirkungen des Urteils durch eine Klarstellung in der Insolvenzordnung beseitigt. Ein rasches Einschreiten des Gesetzgebers dürfte daher in jedem Fall erforderlich sein.
Wir behalten die Entwicklung im Auge und werden weiter berichten.