Nachtarbeitszuschläge im Tarifvertrag: BVerfG kippt BAG-Urteile
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 11.12.2024 (1 BvR 1109/21) entschieden, dass Tarifvertragsparteien Zuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit unterschiedlich gestalten dürfen. Ein Paukenschlag für das Arbeitsrecht, denn das Urteil stellt die bisherige Praxis des Bundesarbeitsgerichts (BAG) infrage und bringt Klarheit für Unternehmen und Beschäftigte. Was bedeutet diese Entscheidung konkret? Hier erfahren Sie alle wichtigen Details.
Hintergrund: Die Diskussion um Nachtarbeitszuschläge
Seit Jahren beschäftigt die Frage, ob Mitarbeiter, die nur ab und zu in der Nacht arbeiten, höhere Zuschläge bekommen dürfen als solche, die regelmäßigen in Nachtschichten arbeiten, die Gerichte. Bereits in unserem Blogbeitrag aus dem Jahr 2019 haben wir über die Diskussion zu Nachtschichtzuschlägen in Tarifverträgen berichtet. Die rechtliche Unsicherheit zu diesem Thema bestand lange.
Das BAG hat einige Entscheidungen zu verschiedenen Tarifwerken getroffen. Bei manchen hielten die Regelungen zur unterschiedlichen Vergütung, insbesondere, weil dort Gründe für die Differenzierung im Text enthalten waren (z.B. beim BMTV der Süßwarenindustrie oder dem MTV der Getränkeindustrie). Bei manchen Tarifverträgen sah es das BAG aber anders und erkannte eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung. Folge war, dass in diesen Fällen die Nachtschichtmitarbeiter eine Anpassung ihrer Zuschläge an die höheren Sätze verlangen konnten.
Das hat nun erstmal ein Ende: Das Bundesverfassungsgericht hat mit am 19.02.2025 veröffentlichen Beschluss zwei Entscheidungen des BAG gekippt und an das BAG zurückverwiesen. Der Manteltarifvertrag für Mitarbeitende von Brauereien in Hamburg und Schleswig-Holstein enthält aus Sicht des Gerichts keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung in Bezug auf die Vergütung von Nachtarbeit.
Der Sachverhalt: Ist Nachtschicht gleich Nachtschicht?
Das BAG hatte entschieden, dass es einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 GG darstellen würde, wenn Nachtarbeiter (die also nur gelegentlich nachts tätig werden) höhere Zuschläge bekommen als Nachtschichtarbeiter. Erstere erhielten einen Zuschlag von 50 %, letztere nur von 25 %.
Hintergrund der höheren Zulage für Nachtarbeiter war, dass es für die Betroffenen noch belastender sei, da sie anders als Nachtschichtarbeiter nicht planen könnten. Auch sollten Arbeitgeber davon abgehalten werden, Mitarbeiter nachts einzusetzen. Zudem würden die Nachtschichtarbeiter zusätzliche Vergünstigungen, wie arbeitsfreie Tage, erhalten.
Hierin konnte das BAG in zwei Verfahren aber keinen sachlichen Grund für die unterschiedliche Behandlung erkennen, auch da sich dies aus dem Tarifvertrag heraus nicht ergeben würde. Einen solchen sachlichen Grund brauche es aber, da Art 3 GG eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie sei.
Es urteilte daher, dass eine „Anpassung nach oben“ erfolgen müsste, und auch den Nachtschichtarbeitern die höheren Zuschläge wie bei den Nachtarbeitern zu zahlen seien.
Das wollten die verbandsangehörigen Arbeitgeberinnen (unter anderem Coca-Cola) nicht akzeptieren und erhoben Verfassungsbeschwerde.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht sieht in den BAG-Entscheidungen einen Verstoß gegen die Tarifautonomie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG. Das BAG habe die hierdurch geschützte Koalitionsfreiheit nicht ausreichend berücksichtigt und das Urteil die Arbeitgeberinnen daher in ihrem Grundrecht aus Art 9 GG verletzt.
Zwar erkennt das Gericht an, dass auch die Tarifvertragsparteien an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 GG gebunden seien. Die Regelung von Zuschlägen liege aber im Kernbereich der von Art 9 GG geschützten Gestaltungskompetenz der Tarifvertragsparteien. Daher beschränke sich im Falle von Tarifverträgen die Kontrolle auf eine „Willkürkontrolle“.
Diesen Maßstab habe das BAG nicht angewandt; die vorgebrachten Gründe für die unterschiedliche Behandlung hielten einer Willkürkontrolle aus Sicht des BVerfG stand. Zudem sei es gerade nicht erforderlich, dass die Gründe sich im Tarifvertragstext finden müssten.
Aber das BVerfG ging noch weiter: auch die vom BAG gezogene Konsequenz, dass aus dem aus seiner Sicht ungerechtfertigten Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz eine „Anpassung nach oben“ folge, sei verfassungsrechtlich nicht zutreffend. Das Gericht habe hiermit der „Korrekturkompetenz“ der Tarifvertragsparteien nicht hinreichend Rechnung getragen. Es könne nicht unterstellt werden, dass die Tarifvertragsparteien eine solche Regelung gewollt hätten. Schließlich käme Nachtarbeit viel seltener vor, was den Parteien bei Abschluss des Tarifvertrags auch bewusst gewesen sei. Die Tarifvertragsparteien müssen daher die Gelegenheit bekommen, eine Anpassung vorzunehmen. Nur wenn eine einzige Gestaltungsmöglichkeit zur Verfügung steht, darf ein Gericht eingreifen und eine „Anpassung nach oben“ festlegen.
Die Sache wurde nun zur erneuten Entscheidung zurück an das BAG verwiesen.
Konsequenzen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Das Urteil des BVerfG hat weitreichende Auswirkungen:
Stärkung der Tarifautonomie: Tarifvertragsparteien können ihre Gestaltungskompetenz weiterhin frei nutzen, ohne dass Gerichte ohne sachlichen Grund eingreifen.
Rechtssicherheit für Unternehmen: Arbeitgeber können auf die Verbindlichkeit tarifvertraglicher Regelungen vertrauen, ohne Überraschungen durch nachträgliche richterliche Korrekturen.
Erschwerte Klagen für Arbeitnehmer: Künftige Klagen gegen unterschiedliche Nachtarbeitszuschläge haben geringere Erfolgsaussichten.
Keine automatische "Anpassung nach oben": Selbst wenn eine Ungleichbehandlung vorliegt, bedeutet das nicht automatisch, dass alle Arbeitnehmer die höheren Zuschläge erhalten. Die Tarifparteien haben Vorrang bei der Anpassung.
Spannend wird die Frage sein, ob und welche Anpassung die Tarifvertragsparteien vornehmen werden. Da es aber eine Reihe möglicher alternativer Gestaltungen gibt, wird das BAG nicht bei seiner „Anpassung nach oben“ bleiben können.
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