Klimaschutz umspannt als gesamtgesellschaftliches Ziel mittlerweile alle Bereiche des politischen und wirtschaftlichen Handelns in Deutschland und der EU, insbesondere unter den Schlagwort Corporate Social Responsibility („CSR“) oder Environmental, Social, & Governance („ESG“) . Auf europäischer Ebene hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 11. Dezember 2019 den European Green Deal zu einer der sechs Prioritäten ihrer Präsidentschaft erklärt. Hiernach sollen unter anderem bis 2050 die Netto-Emissionen von Treibhausgasen der Europäischen Union auf null reduziert werden.
Auch die UN hat in ihren UN Sustainable Development Goals Ziele für eine nachhaltige Zukunft aufgestellt. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht die Verbindlichkeit der Erreichung der Klimaziele unterstrichen.
Nachhaltigkeitsziele setzen Anreize für Unternehmenskooperationen.
Diese Nachhaltigkeitsziele können ohne Transformationsprozesse der Wirtschaft nicht erreicht werden. Betroffene Unternehmen sehen sich zum einen mit den Kosten einer solchen Transformation konfrontiert. Zum anderen möchten sie die Vermarktungspotentiale nachhaltiger Produkte und Dienstleistungen rechtssicher nutzen. Dies führt zu einem erhöhten Interesse an Nachhaltigkeitskooperationen mit Wettbewerbern, zum Beispiel beim Setzen von Branchenstandards wie der Initiative Tierwohl durch den deutschen LEH oder bei Vereinbarungen von Finanzunternehmen, auf umweltschädliche Investitionen verzichten zu wollen.
Reibungspunkte zwischen Kartellrecht und Nachhaltigkeit.
An diesem Punkt entstehen Reibungspunkte zwischen der Umsetzung der Nachhaltigkeitsprojekte und dem Kartellrecht, denn Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen, die den freien Wettbewerb zwischen Unternehmen beschränken, sind nach aufgrund des Kartellverbots in den Mitgliedstaaten der EU (Art. 101 Abs. 1 AEUV) verboten. Dieses Verbot erstreckt sich auch auf Nachhaltigkeit, da diese ein wichtiger Wettbewerbsparameter sein kann, beispielsweise wenn Verbraucher ihre Kaufentscheidung (auch) anhand von Nachhaltigkeitskriterien wie Umweltstandards, Fairtrade oder Bio treffen. Nachhaltigkeitskooperationen zwischen unabhängigen Unternehmen müssen sich daher stets auch am Maßstab des Kartellverbots messen lassen.
Nachhaltigkeit als Ausnahme vom Kartellverbot.
Mangels besonderer Ausnahmen für Nachhaltigkeitskooperationen, gibt es derzeit grundsätzlich drei Möglichkeiten, um eine solche Kooperationen nicht am Kartellverbot scheitern zu lassen: die Kooperation stellt bereits keine bezweckte oder bewirkte Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Kartellverbots dar (Tatbestandslösung); die Wettbewerbsbehörde macht von ihrem Ermessen gebrauch und verzichtet einstweilen auf ein Verfahren bzw. ein behördliches Eingreifen (Ermessenslösung); die Nachhaltigkeitskooperation wird vom Kartellverbot nach Art. 101 Abs. 3 AEUV freigestellt (Freistellungslösung).
Die Freistellungslösung ist allerdings an vier Bedingungen geknüpft, die in der gegenwärtigen Praxis eng ausgelegt werden. So muss eine Kooperation: (1.) zu einem Effizienzgewinn führen, (2.) die Verbraucher angemessen an diesem Gewinn beteiligt sein, (3.) die Beschränkung unerlässlich sein und (4.) keine Möglichkeit zur Ausschaltung des Wettbewerbs eröffnet werden.
Bei Nachhaltigkeitskooperationen tut sich insbesondere das Bundeskartellamt schwer mit der Bejahung von Effizienzgewinnen und der Verbraucherbeteiligung. Ausweislich des Hintergrundpapiers „Offene Märkte und nachhaltiges Wirtschaften – Gemeinwohlziele als Herausforderung für die Kartellrechtspraxis“ können Nachhaltigkeitsgewinne häufig bereits nicht monetarisiert werden, zum Beispiel die Vermeidung von Kinderarbeit im globalen Süden. Selbst wenn eine Monetarisierung denkbar ist, sieht das Kartellamt praktische Schwierigkeiten bei der Berechnung der Höhe solcher Nachhaltigkeitsgewinne. Und selbst wo eine solche Berechnung möglich erscheint, müssen mögliche Mehrkosten und Effizienzgewinne für die betroffenen Verbraucher zumindest neutral sein.
Diese enge Anwendungspraxis des Bundeskartellamtes ist jedoch nicht zwingend und insbesondere nicht gesetzlich vorgegeben. Ein aktueller Competition Policy Brief der EU-Kommission zum Thema Nachhaltigkeit unterstreicht dies. Die EU-Kommission erläutert insbesondere:
„Die Vorteile der Nachhaltigkeit müssen sich nicht unbedingt in Form einer direkten oder sofort spürbaren Verbesserung der Produktqualität oder einer Kosteneinsparung. Solange die Nutzer des Produkts die Vorteile der Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit der Art und Weise der Art und Weise, wie die Produkte hergestellt oder vertrieben werden, schätzen und bereit sind bereit sind, allein aus diesem Grund einen höheren Preis zu zahlen, können diese Vorteile bei der Bewertung berücksichtigt werden. […] Zum Beispiel, wenn eine Vereinbarung zu einer Verringerung der Umweltverschmutzung zum Nutzen der Gesellschaft führt, und vorausgesetzt, der Nutzen ist erheblich, kann ein angemessener Anteil davon den geschädigten Verbrauchern – die Teil der Gesellschaft sind – zugeordnet werden und sie vollständig für den Schaden entschädigen.“
Noch weitgehender bejaht die niederländische Kartellbehörde ACM in ihren Leitlinien zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen die Freistellung solcher Vereinbarungen. Die ACM führt hierbei aus, dass in einfach gelagerten Fällen ohne erhebliches Wettbewerbspotenzial auf die Quantifizierung der Nachhaltigkeitseffizienzen verzichtet werden kann.
Kartellrechtsreform in Österreich: Nachhaltigkeit als Effizienzgewinn.
Als erstes Land der europäischen Union hat Österreich nun eine legislative Reform des Kartellgesetzes in Aussicht gestellt, wonach bei der Beurteilung österreichischer Kartellfälle eine Berücksichtigung von Nachhaltigkeits- und Umwelteffizienzen im Rahmen der Freistellung ausdrücklich erlaubt wird. Das österreichische Kartellgesetzes sieht in § 2 Abs. 1 UAbs. 2 vor, dass unternehmerische Kooperationen zum Zweck einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft vom Kartellverbot freigestellt werden können. Im Wortlaut heißt es:
„Die Verbraucher sind auch dann angemessen beteiligt, wenn die Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder die Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft beiträgt.“
Das bislang auch im österreichischen Recht bestehende Problem, dass ökologische und soziale Vorteile oftmals eben nicht (nur) den unmittelbaren Kunden der Unternehmen zugutekommen, sondern vielmehr der Allgemeinheit als Ganzes, würde somit zugunsten eines breiteren Verständnisses von Verbraucherbeteiligung gelöst.
Unter „ökologischer Nachhaltigkeit“ versteht der Gesetzgeber den vorausschauenden und rücksichtvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen, insbesondere Klimaschutz, nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasserressourcen, Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft und den Schutz und die Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme. Für eine Freistellung soll erforderlich sein, dass der Nachhaltigkeitsbeitrag ein gewisses Maß an Intensität erreicht. Ein darüber hinaus gehender wirtschaftlicher Effizienzgewinn ist für die Freistellung jedoch nicht erforderlich. Offen lässt der österreichische Gesetzgeber die Methoden zur Messung behaupteter Nachhaltigkeitseffizienzen. Diese werden daher der Praxis überlassen. Dies ist aber keine Besonderheit der Freistellung aus Nachhaltigkeitsgründen, sondern gilt generell für das Kartellrecht.
Fazit und Ausblick.
Die gesetzgeberische Klarstellung in Österreich ist zu begrüßen. Sie hat angesichts der bislang zögerlichen Praxis der Kartellbehörden bei Nachhaltig-keitskooperationen mehr als nur deklaratorischen Charakter, wobei die gesetzlichen Freiräume der Freistellung vom Kartellverbot bereits heute eine Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen zulässt und es vielmehr eines Paradigmenwechsels der Behördenpraxis denn des normativen Rahmens bedarf, um das derzeit antagonistische Verhältnis zwischen Kartellrecht und Nachhaltigkeit in eine friedliche Koexistenz zu überführen.
Gerne stehen wir Ihnen zu allen Fragen der rechtlichen Beratung rund um Nachhaltigkeit, CSR und ESG zur Verfügung.
Dr. Kim Manuel Künstner berät Lebensmittelhersteller zu allen Fragen des Kartellrechts einschließlich der Vereinbarungen mit Lieferanten und dem Handel und im Rahmen des Transaktionsgeschäfts.