Wettbewerbsbeschränkende Absprachen zwischen Unternehmen auf derselben oder auf unterschiedlichen Marktstufen sind kartellrechtlich grundsätzlich verboten (Art. 101 AEUV, § 1 GWB). Dies war bislang auch häufig ein Hemmnis bei Projekten der Erzeuger zur Etablierung höherer Nachhaltigkeitsstandards untereinander beziehungsweise mit den Marktteilnehmern der Lebensmittelversorgungskette auf Stufe der Verarbeitung, des Handels und des Vertriebs.

Um trotz dieser kartellrechtlichen Schranken höhere Nachhaltigkeitsstandards zu ermöglichen, haben einige Wettbewerbsbehörden ihren Ermessensspielraum großzügiger genutzt und sogar Richtlinien für Nachhaltigkeitsvereinbarungen veröffentlicht. In Österreich hat der Gesetzgeber Nachhaltigkeit ausdrücklich als Ziel genannt, dessen Verwirklichung zur Freistellung eigentlich kartellrechtlich verbotener Absprachen führen kann.

Mit der am 6. Dezember 2021 im Amtsblatt der EU veröffentlichten Verordnung 2021/2117 wird die Verordnung Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse (gemeinsame Marktorganisation, „GMO“) nun mit Art. 210a GMO um eine Ausnahmevorschrift vom Kartellverbot für übergesetzliche Nachhaltigkeitsstandards in der Lebensmittelversorgungskette erweitert. Die Vorschrift bietet erheblichen Spielraum, um Nachhaltigkeitsprojekte zwischen landwirtschaftlichen Erzeugern aber auch entlang der gesamten Lieferkette („Branchenlösung“) kartellrechtskonform umzusetzen.

Im Folgenden beantworten wir die wichtigsten Fragen. Für weitere Informationen sprechen Sie gerne unseren Experten für Lebensmittelkartellrecht Dr. Kim Manuel Künstner an.

Welche Absprachen werden durch Art. 210a GMO freigestellt?

Freigestellt werden können Absprachen zwischen Marktteilnehmern der Lebensmittelversorgungskette, die darauf abzielen, einen Nachhaltigkeitsstandard anzuwenden, der über gesetzliche Anforderungen in der EU oder dem jeweiligen Mitgliedstaat hinausgeht.

Sind nur Absprachen zwischen Erzeugern geschützt oder auch mit anderen Marktteilnehmern (z.B. Verarbeiter, Händler)?

Die Freistellung bezieht sich sowohl auf Absprachen zwischen Erzeugern (horizontale Absprache) als auch auf Absprachen zwischen einem oder mehreren Erzeugern mit einem oder mehreren Verarbeitern, Händler oder anderen Marktteilnehmern der Lebensmittelversorgungskette. In jedem Fall muss aber zumindest ein Erzeuger an dem Nachhaltigkeitsstandard beteiligt sein.

Was sind Nachhaltigkeitsstandards im Sinne des Art. 210a GMO?

Art. 210a Abs. 3 GMO definiert Nachhaltigkeitsstandards, als Standards, die zumindest zu einem der folgenden Ziele beitragen:

  • Umweltziele (z.B. Klimaschutz, Anpassung an Klimawandel, Landschaftsschutz, Schutz von Wasser und Böden, Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft inklusive Verringerung der Lebensmittelverschwendung, Vermeidung bzw. Reduktion von Umweltverschmutzung, Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität);

  • Verringerung des Einsatzes von Pestiziden in der landwirtschaftlichen Erzeugung; oder

  • Tiergesundheit und Tierwohl.

Gilt die Freistellung vom Kartellverbot für Nachhaltigkeitsstandards unbeschränkt?

Nein, es gibt eine wettbewerbliche Schranke, die besteht, dass der Nachhaltigkeitsstandard lediglich zu Wettbewerbsbeschränkungen führen darf, die für das Erreichen des Standards unerlässlich sind (Art. 210a Abs. 1 GMO). Diese Formulierung ist aus der generellen Freistellung vom Kartellverbot nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bekannt.

Wollen die Wettbewerbsbehörden zudem einen Beschluss fassen, der die Durchführung eines eigentlich nach Art. 210a GMO freigestellten Nachhaltigkeitsstandard untersagen soll, können die Wettbewerbsbehörden dies auch damit begründen, das die Durchführung des Nachhaltigkeitsstandards die Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) gefährden, d.h. beispielsweise die Versorgungssicherheit oder angemessene Verbraucherpreise.

Können auch Preise und Vertragslaufzeiten zum Gegenstand der freigestellten Absprachen sein?

Ja, sofern sie für das Erreichen des übergesetzlichen Nachhaltigkeitsstandards nicht unerlässlich sind. Anders als etwa in der landwirtschaftliche Bereichsausnahme vom Kartellverbot für landwirtschaftliche Erzeugnisse in § 28 GWB hat sich für Art. 210a GMO die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Erreichung höherer Nachhaltigkeitsstandards mit Mehrkosten verbunden sein können, die häufig einseitig von den Erzeugern zu tragen sind.

Dass im Rahmen von Vereinbarungen im Sinne des Art. 210a GMO landwirtschaftliche Erzeuger auch höhere Preise bzw. längerfristige Lieferverträge vereinbaren dürfen, legt eine aktuelle Mitteilung der EU-Kommission an das EU-Parlament über aktuelle Herausforderungen der Wettbewerbspolitik nahe. Demnach erlaube die Ausnahme aus Art. 210a GMO Erzeugern nachhaltigere Praktiken im Austausch gegen höhere Preise, längerfristige Lieferverträge. etc.

Bedarf die Freistellung einer vorhergehenden Behördenentscheidung?

Nein, die Freistellung gilt ausdrücklich ohne vorhergehende Behörden­entscheidung. Dies entspricht der Praxis der kartellrechtlichen Selbstveranlagung. Demnach müssen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen selbst analysieren, ob ihre Verhaltensweisen kartellrechtskonform sind.

Ab wann gilt die Ausnahme (in Deutschland)?

Die Ausnahme gilt bereits jetzt unmittelbar und ohne weiteren Umsetzungsakt in Deutschland und allen anderen EU-Mitgliedstaaten. Art. 210a GMO wurde am 6. Dezember 2021 im EU-Amtsblatt verkündet und trat daher am 7. Dezember 2021 in Kraft.

Wie können Erzeuger und andere Marktteilnehmer die Rechtssicherheit bei Anwendung des Art. 210a GMO erhöhen?

Ausgangspunkt der kartellrechtlichen Selbstveranlagung sollte eine fundierte rechtlichen Beratung sein. Nach Art. 210a Abs. 5 GMO wird die EU-Kommission bis zum 8. Dezember 2023 Leitlinien zu den Bedingungen für die Anwendung der Ausnahme vom Kartellverbot veröffentlichen.

Erst ab dem 8. Dezember 2023 können Erzeuger die Kommission um eine Stellungnahme zur Vereinbarkeit ihrer Vorgaben mit Art. 210a GMO ersuchen, die dann innerhalb von 4 Monaten erbracht werden soll. Gegenüber dem Bundeskartellamt besteht zudem zwar bereits heute nach § 32c Abs. 4 GWB ein Anspruch auf Entscheidung, dass es keinen Anlass zum Tätigwerden hinsichtlich eines bestimmten Vorhabens gibt. Eine solche Erklärung bezieht sich aber immer nur auf die Frage, ob eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung vorliegt, nicht jedoch darauf, ob diese (nach Art. 210a GMO) freigestellt ist.

Welche Behörden sind zuständig?

Da Art. 210a GMO eine Ausnahme zum Kartellverbot nach Art. 101 AEUV ist, bleiben die Wettbewerbsbehörden zuständig, d.h. in Deutschland das Bundeskartellamt. Als Wettbewerbsbehörde der EU ist die EU-Kommission insbesondere für Ausnahmen nach Art. 210a GMO zuständig, die mehr als einen Mitgliedstaat betreffen (siehe Art. 210a Abs. 7 UAbs. 2 GMO).

Wie kann ich von der neuen Kartellausnahme Gebrauch machen?

Aufgrund des Systems der kartellrechtlichen Selbstveranlagung genügt im Ausgangspunkt eine fundierte rechtliche Selbsteinschätzung, ggfs. unter Zuhilfenahme externer rechtlicher Berater. Ob es darüber hinaus sinnvoll ist, in Kontakt mit den Wettbewerbsbehörden zu sprechen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.

Gerne unterstützen wir Sie bei allen Fragen rund um dieses Thema und zu allen anderen rechtlichen Aspekten im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Lebensmittelkartellrecht.


Dr. Kim Manuel Künstner berät Lebensmittelhersteller zu allen Fragen des Kartellrechts einschließlich der Vereinbarungen mit Lieferanten und dem Handel und im Rahmen des Transaktionsgeschäfts.