Vergleicht man die Situation in Spanien und Deutschland hinsichtlich der zivilrechtlichen Kartellschadensersatzverfahren im Zusammenhang mit dem EU-weiten LKW-Kartell, fällt auf, dass es in Spanien bereits eine hohe Anzahl an erstinstanzlichen Urteilen gibt, welche die LKW-Hersteller zur Zahlung eines Schadensersatzes zwischen 5% und 15% des Kaufpreises nebst Zinsen und Kosten verpflichtet, während in Deutschland solche Leistungsurteile weiterhin fehlen. Der folgende Beitrag zeigt auf, warum sich diese Diskrepanz mit dem aktuellen Urteil des BGH in Sachen „Schienenkartell II“ mittelfristig ausgleichen wird.

1. Die Zahlen.

Den gut belegten Zahlen des Madrider Professors Francisco Marcos zufolge, liegen derzeit mindestens 96 erstinstanzliche Urteile (+ 12 Berufungsurteile) in Spanien vor, welche den Klägern einen Kartellschadensersatz von mindestens 5% des Kaufpreises gegen die LKW-Kartellanten zusprechen, häufig zuzüglich Zinsen und Kosten. Er schlussfolgert daraus als generelle Regel für Kartellschadensersatzklagen in Spanien gegen Teilnehmer des LKW-Kartells: wer als Abnehmer die Hersteller rechtzeitig verklagt, gewinnt und erhält von den spanischen Gerichten zwischen 5% und 15%.

Dagegen weist die Rechtsprechungsdatenbank Juris für Deutschland derzeit 45 erstinstanzliche Urteile in LKW-Kartellschadensersatzverfahren aus. Soweit die Klagen erfolgreich sind, handelt es sich ausschließlich um Feststellungs- und Grundurteile. Die Anzahl der Urteile, die den Klägern eine Schadenssumme zusprechen, liegt demnach, soweit ersichtlich, derzeit bei null.

2. Warum steht es 96 zu 0?

Die Zahlen werfen umgehend die Frage auf, warum es im Vergleich erfolgreicher Leistungsklagen im LKW-Kartell zwischen Spanien und Deutschland 96:0 steht? Eine erste Annäherung bietet ein Ausschluss der Umstände, die als Begründung weniger wahrscheinlich sind:

So lässt sich zunächst ausschließen, dass es an der Arbeitsgeschwindigkeit der Gerichte liegt. Vergleicht man die Zeitläufe zwischen Klageerhebung und Urteil in Deutschland und Spanien, fällt auf, dass es in Deutschland gegenüber den Leistungsurteilen in Spanien tendenziell sogar länger dauert, bis es zu einem Feststellungs- bzw. Grundurteil kommt. Es kann daher zumindest ausgeschlossen werden, dass den spanischen Gerichten mehr Zeit zur Verfügung stand, um Leistungsurteile zu fällen.

Ebenfalls wenig Raum für regionale Unterschiede bietet der Blick auf den Sachverhalt. Dieser wurde einheitlich durch die Bußgeldentscheidungen der EU-Kommission festgestellt. Soweit es daher um das Kartell geht, greifen spanische und deutsche Gerichte auf dieselben Ausgangsentscheidungen zurück. Im Übrigen geht es in beiden Ländern um die Abnahme von kartellierten LKW durch gewerbliche Kunden, so dass es auch hier an einem strukturellen Unterschied fehlt.

Auch der grundsätzliche materiell-rechtliche Rahmen vermag die Diskrepanz allenfalls teilweise zu erklären. Materiellrechtliche Anspruchsgrundlage in Spanien für Ansprüche gegen das LKW-Kartell sind der allgemeine deliktsrechtliche Anspruch des Art. 1.902 Código Civil (Spanisches Bürgerliches Gesetzbuch) iVm Art. 101 AEUV. Dies entspricht der deutschen Systematik für Ansprüche vor der 6. GWB-Novelle im Jahre 1998, die auf § 823 Abs. 2 BGB iVm Art. 101 AEUV gestützt werden. Ansprüche aus dem LKW-Kartell nach diesem Datum sind auf die jeweilige Fassung des § 33 GWB zu stützen. Hier allerdings gibt es einen ersten Unterschied, der die Zurückhaltung und Verfahrensdauer deutscher Gerichte erklären könnte: nach Ansicht der spanischen Gerichte, setzt der deliktische Anspruch aus Art. 1.902 Código Civil auch bei kartellrechtlichen Ansprüchen dreierlei voraus: rechtswidrige Handlung, Kausalzusammenhang und tatsächlicher Schaden. Einen Schutzzweckzusammenhang wie bei § 823 Abs. 2 BGB zumindest außerhalb der kartellrechtlichen Ansprüche (und wie vom EuGH kürzlich im Falle des österreichischen Kartellschadensersatzrechts kassiert) oder eine Kartellbetroffenheit wie in § 33 Abs. 3 GWB sucht man im spanischen Recht vergebens. Folglich müssen sich die spanischen Gerichte mit diesem in seiner Zielrichtung nach Unionsrecht fragwürdigen Tatbestandsmerkmal nicht auseinandersetzen.

Gleichwohl erklärt die restriktive Wirkung der Kartellbetroffenheit im deutschen Recht nicht, warum es bei den gleichwohl dem Grunde nach erfolgreichen Klagen keine Entscheidungen der Höhe nach in Deutschland gibt.

3. Der Schlüssel: keine Angst vor Schätzungen.

Der wesentliche Grund für die Unterschiede in Spanien und Deutschland liegt in der auffälligen Zurückhaltung der deutschen Gerichte, von der Schadensschätzung nach § 287 ZPO effektiv Gebrauch zu machen. Stattdessen werden zunächst Grundurteile in Richtung Instanzenzug geschickt und im Übrigen kostentreibende und zeitintensive Gerichtsgutachten in Auftrag gegeben.

Anders dagegen die Praxis in Spanien. In den Begründungen zur Bestimmung der Schadenshöhe wird in den spanischen Urteilen direkt auf die Notwendigkeit der Analyse der von der Klägerin vorgenommenen Quantifizierung und des sie stützenden Gutachtens im Vergleich zu dem der Beklagten verwiesen. Gerichtsgutachten spielen dabei keine Rolle.

Dabei gehen die spanischen Gerichte von einer Maxime aus, die sich bereits aus dem praktischen Leitfaden der Kommission zur Quantifizierung von Schadenersatz ergibt: es ist unmöglich den hypothetischen Wettbewerbspreis zu ermitteln, dessen Differenz zum tatsächlichen Kaufpreis den kartellbedingten Schaden bildet. Diese Erkenntnis und dieses Bekenntnis entheben die Richter zugleich von der Last, die ohnehin nicht vorhandene eine objektive Wahrheit aus dem Vortrag der Parteien ermitteln zu müssen. Der Möglichkeit der begründeten Schätzung ist damit der Boden bereitet.

Diese der Natur der Sache entspringende Notwendigkeit der Schätzung darf jedoch nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. An den Vortrag der Kläger bzw. der Beklagten werden insbesondere die folgenden Maßstäbe angelegt:

  • vom Sachverständigengutachten des Geschädigten wird verlangt, dass er eine vernünftige und technisch fundierte Hypothese über überprüfbare und nicht fehlerhafte Daten formuliert. Die Auswahl der eingesetzten Methode muss begründet werden und darf nicht widersprüchlich oder willkürlich sein.

  • die Unmöglichkeit das kontrafaktische Szenario genau zu ermitteln, darf die Opfer nicht daran hindern, eine angemessene Entschädigung für den erlittenen Schaden zu erhalten, sondern rechtfertigt ein größeres Ausmaß der Befugnis der Richter zur Schadensschätzung

  • vom Sachverständigengutachten des Schädigers wird verlangt, dass es nicht lediglich die Richtigkeit und Genauigkeit der Quantifizierung des Gutachtens des Geschädigten in Frage stellt, sondern es ist notwendig, dass es eine besser begründete alternative Quantifizierung rechtfertigt. Untauglich sind zudem Gutachten der Beklagten, die von inakzeptablen Grundlagen ausgehen, wie der Leugnung der Handlungen des Kartells, der Leugnung der abgestimmten Preiserhöhungen und damit der Leugnung des Vorliegens von Überpreisen.

  • die aus der Komplexität resultierende erhöhte Flexibilität der Richter bei der Beurteilung des Schadens darf nicht mit "salomonischen" Lösungen verwechselt werden, d.h. bei zwei widerstreitenden Gutachten, die von einem Schaden in Höhe von 10% bzw. 0% ausgehen, darf das Gericht die kritische Würdigung der Gutachten nicht durch eine Festlegung des Schadens bei 5% ersetzen.

4. Spanien hatte sein „Schienenkartell-II“-Urteil bereits 2013.

Den Hintergrund des geschilderten Vorgehens der spanischen Urteile bildet eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Spaniens im spanischen Zuckerkartell-Fall aus 2013 (STS 651/2013, 7. November 2013). Dort hat der Gerichtshof bereits die oben beschriebenen Grundsätze festgelegt und den Vorinstanzen eine belastbare Segelanweisung zur Schadensermittlung und -schätzung in Kartellschadens¬ersatz-fällen an die Hand gegeben, auf die nun auch die Entscheidungen zum LKW-Kartell gestützt werden.

Anders stellte sich die Lage bis vor kurzem in Deutschland dar. Dort galten als maßgebliche Urteile zum Kartellschadensersatz bis vor kurzem ORWI und Schienenkartell I:

  • Mit ORWI (BGH, Urteil vom 28. Juni 2011 - KZR 75/10) gelang es dem BGH, völlige Verwirrung darüber zu stiften, ob bzw. welcher Teil der Kartellbetroffenheit bzw. der „erste Schaden“ am Maßstab des Vollbeweises nach § 286 ZPO zu bemessen ist und wofür Anwendungsraum für die Schätzung nach § 287 ZPO verbleibt. Aus ORWI las damit jeder Tatrichter heraus, was er für richtig hielt.

  • Mit Schienenkartell I (BGH, Urteil vom 11. Dezember 2018 – KZR 26/17) entzog der BGH dann den Instanzengerichten ihren bisherigen Ansatz, eine Entstehung des Schadens dem Grunde nach anhand eines Anscheinsbeweises festzustellen. Das Urteil wurde allgemein so aufgefasst, dass es Klägern damit deutlich schwerer gemacht werde, Schadensersatz zu verlangen.

Mit dem jüngst veröffentlichten Urteil Schienenkartell II (BGH, Urteil vom 28. Januar 2020 – KZR 24/17) korrigiert der BGH diese babylonische Verwirrung und folgt (unbewusst) dem Ansatz der spanischen Gerichte. Insbesondere bestimmt der BGH:

  • Deutliche Rückstufung der Kartellbetroffenheit: Die Kartellbetroffenheit betrifft nur die Frage, ob dem Anspruchsgegner ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten anzulasten ist, das - vermittelt durch den Abschluss von Umsatzgeschäften oder in anderer Weise - geeignet ist, einen Schaden des Anspruchstellers mittelbar oder unmittelbar zu begründen. Nur hierfür gilt der Beweismaßstab des Vollbeweises nach § 286 ZPO.

  • Kausale Schadensentstehung unterliegt Schätzungsmöglichkeit: Ob sich die Kartellabsprache dagegen bei dem Geschädigten tatsächlich ausgewirkt hat, betrifft die Schadensfeststellung und ist damit Gegenstand der Schätzungsmöglichkeit des Gerichts nach § 287 ZPO. Diese „Kartellbefangenheit“ einzelner Erwerbe des Geschädigten ist gelichbedeutend mit der Praxis des EuGH zur Kausalität zwischen Kartellverstoß und erlittenem Schaden.

  • Hypothetischer Wettbewerbspreis ist einem Beweis nicht zugänglich: Auch der BGH betont nun wie bereits die spanischen Gerichte, dass der kontrafaktische Wettbewerbspreis nicht bestimmt werden kann und eine mathematische Berechnung des Schadens nicht möglich ist. Daher müssten die Richter von ihrer Schätzungsmöglichkeit Gebrauch machen. Auch Gutachter könnten sich mit ökonometrischen Methoden regelmäßig dem kontrafaktischen Szenario eines hypothetischen Wettbewerbspreises nur annähern.

  • § 287 ZPO eröffnet weitreichende Schätzungsmöglichkeiten: Für die richterliche Überzeugungsbildung reicht eine deutlich überwiegende, auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit aus, dass ein Schaden entstanden ist. Im Anwendungsbereich des § 287 Abs. 1 ZPO ist der Tatrichter besonders freigestellt. Seine Einschätzung ist mit der Revision nur daraufhin überprüfbar, ob er Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen oder seiner Schätzung unrichtige Maßstäbe zu Grunde gelegt hat. Der Tatrichter ist jedoch nicht gezwungen, jeden angebotenen Beweis zu erheben. Weil er bei der Behandlung von Anträgen zum Beweis von Indizien freier gestellt ist als bei sonstigen Beweisanträgen, darf und muss er bei einem Indizienbeweis vor der Beweiserhebung prüfen, ob die vorgetragenen Indizien - ihre Richtigkeit unterstellt - ihn von der Wahrheit der Haupttatsache überzeugten. Führt diese Prüfung zu dem Ergebnis, dass auch der Nachweis der in Rede stehenden Hilfstatsachen die richterliche Überzeugung von der Haupttatsache nicht begründen könnte, dürfen Beweisanträge, die diese Hilfstatsachen betreffen, abgelehnt werden.

  • Anforderungen an Privatgutachten: Die Vorlage eines Privatgutachtens verpflichtet den Tatrichter nach den vorstehenden Grundsätzen nicht in jedem Fall zur Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens. Die Plausibilität eines Privatgutachtens hängt typischerweise zum einen von der Genauigkeit und Validität der tatsächlichen Beobachtungen auf dem kartellierten und einem - zeitlichen, räumlichen oder sachlichen - Vergleichsmarkt und zum anderen davon ab, ob sich die Unterschiede zwischen den verglichenen Märkten mit hinreichender Zuverlässigkeit erfassen lassen. Daraus ergibt sich, dass ein Sachverständigengutachten weder die richterliche Gesamtwürdigung ersetzen kann, noch die Vorlage eines solchen Gutachtens durch eine der Parteien diese Würdigung in der einen oder anderen Richtung präjudiziert.

Es ist davon auszugehen, dass die Tatrichter diese Hinweise des BGH auch in den Fällen des LKW-Kartells umfangreich beachten und von den größeren Schätzungsmöglichkeiten regen Gebrauch machen werden. Die deutschen Gerichte werden den Kartellschaden primär anhand der kritischen Auseinandersetzung mit den vorgelegten ökonomischen Parteigutachten bestimmen. Abweisungen wegen vermeintlich fehlendem Nachweis der Kartellbetroffenheit, Grundurteile und die Einholung von Gerichtsgutachten werden dagegen weniger werden. Das Ergebnis dürfte sein, dass Deutschland den Rückstand von 96:0 gegenüber Spanien zumindest wird verkürzen können.


Dr. Kim Manuel Künstner berät Unternehmen in allen Fragen des Kartellrechts.


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