Hat die EU-Kommission in ihrem Entwurf zu den neuen Vertikalleitlinien im Vorbeigehen Mindestwerbepreise („minimum advertised prices“ = „MAP“) als grundsätzlich vom Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen freigestellt? Diese Lesart hat sich zumindest in Deutschland so weit verfestigt, dass das Bundeskartellamt in seiner Stellungnahme dem Handel ganz schnell beigesprungen ist und die EU-Kommission um eine Klarstellung im Sinne des Handels bittet.

Was MAP sind, welche Auswirkungen sie in der Praxis haben und warum entgegen der Ansicht des Bundeskartellamtes ein kartellrechtliches Generalverbot nicht tragfähig ist, beleuchtet der folgende kurze Beitrag:

Was sind MAP und wie wirken sie sich in der Praxis aus?

Mittels MAP können Hersteller Händlern Vorgaben zur Untergrenze des Preises machen, mit dem die Händler die Produkte der Hersteller bewerben dürfen, zum Beispiel in Handzetteln, Online-Werbung, etc. Für Hersteller kann das je nach beworbenem Preisniveau essentiell für die preisliche Positionierung der Produkte sein. Gewöhnt sich der Verbraucher an ein regelmäßig beworbenes Billigpreisniveau eines (Marken-)Artikels, wird er diesen Artikel nur noch zum Angebotspreis nachfragen. Der Händler wird diesen Umstand wiederum in den Verhandlungen mit dem Hersteller nutzen, um ihm vorzuhalten, dass ein höheres Preisniveau beim Verbraucher nicht durchsetzbar sei und daher auch die Einkaufspreise der Händler herabgesetzt werden müssten.

MAP verbieten es Händlern dagegen nicht, günstigere Preise am Point-of-Sale („POS“) anzubieten, das heißt im Ladenlokal selbst oder auf der Produktwebseite, wo der Kunde unmittelbar seine Einkaufsentscheidung trifft. Soweit sich die Händler als Vertreter der Verbraucherinteressen an niedrigen Preisen ausgeben, wäre den Verbrauchern freilich mit günstigeren Preisen am POS ebenfalls geholfen, um Geld zu sparen. Um Verbraucher in die eigenen Märkte zu locken, scheinen Billigwerbepreise insbesondere für Markenartikel allerdings ein wichtiges Mittel für Händler zu sein.

Warum sind MAP überhaupt im kartellrechtlichen Fokus?

Im EU-Wettbewerbsrecht gilt das sogenannte kartellrechtliche Verbot der Preisbindung der zweiten Hand. Demnach muss die Preissetzungshoheit über ihre Wiederverkaufspreise bei den Händlern verbleiben. Hersteller dürfen mit Ausnahme von Höchstpreisbindungen und unverbindlichen Preisempfehlungen grundsätzlich keinen Einfluss auf die Wiederverkaufspreise der Händler nehmen. Preisbindungen der Händler können als Kernbeschränkung nach Art. 4 lit. a Vertikal-GVO nicht gruppenfreigestellt werden und sind damit ein Verstoß gegen das Kartellverbot.

MAP sind dementsprechend ebenfalls nicht nach der Vertikal-GVO freigestellt, wenn sie unmittelbar oder mittelbar, für sich alleine oder in Verbindung mit anderen Umständen unter der Kontrolle der Vertragsparteien die Beschränkung der Möglichkeit des Abnehmers bezwecken, seinen Verkaufspreis selbst festzusetzen. MAP alleine beschränken die eigentliche Preissetzung der Händler offensichtlich nicht. Es wird jedoch argumentiert, dass Händler kein Interesse an günstigen Verbraucherpreisen haben, wenn sie die Verbraucher nicht mit Billigpreiswerbung anlocken können.

Gleichwohl lässt der Wortlaut des Art. 4 lit. a Vertikal-GVO mehr als genug Spielraum, um MAP nicht darunter zu subsumieren. Die gegenwärtige Formulierung der EU-Kommission unter Randziffer 174 des Entwurfs der Vertikalleitlinien ist damit zutreffend: „In ähnlicher Weise können auch Mindestpreisrichtlinien, die es Einzelhändlern verbieten, Preise unterhalb eines bestimmten, vom Anbieter festgelegten Betrags zu bewerben, auf eine Preisbindung der zweiten Hand hinauslaufen, zum Beispiel in Fällen, in denen der Anbieter Einzelhändler dafür bestraft, dass sie letztlich unter den jeweiligen Mindestpreisen verkaufen, ihnen vorschreibt, keine Nachlässe zu gewähren, oder sie daran hindert, mitzuteilen, dass der Endpreis von dem jeweiligen Mindestpreis abweichen könnte. Aus dem Umkehrschluss folgt, dass MAP ohne solche weitergehenden Maßnahmen der Hersteller keine Preisbindung der zweiten Hand sind. Betrachtet man die gesellschaftlichen Kosten von Lockvogelangeboten der Händler, die ohne MAP entstehen, kann man der EU-Kommission nur beipflichten.


Die gesellschaftlichen Kosten von Lockvogelangeboten.

Die wettbewerbsrechtliche Bewertung sehr günstiger Werbepreise wird auf die vermeintlich positive Wirkung günstiger Verbraucherpreise reduziert. Gerade bei günstigen Lockvogelangeboten oder „Loss Leadern“ ist fraglich, ob diese wirklich zu niedrigeren Verbraucherpreisen führen, wenn diese dazu dienen, den Verbraucher zum eigenen POS zu lenken, wo er typischerweise ein ganzes Bündel an Waren oder Dienstleistungen nachfragt und hinsichtlich der nichtbeworbenen Produkte. Je nach Preisniveau der nicht beworbenen Produkte kann es im Saldo sogar zu einer Täuschung der Verbraucher kommen, die im Schnitt für einen Warenkorb bei einem Händler mehr zahlen als bei einem Wettbewerber. Eine solche Situation ist insbesondere im Lebensmitteleinzelhandel denkbar, denn zum einen erwerben Verbraucher dort regelmäßig ein ganzes Bündel an Produkten aus dem Food- und den Non-Food-Sortimenten. Zum anderen gibt es im Lebensmitteleinzelhandel eine starke Präferenz für das sogenannte „One-Stop-Shopping“, das heißt die Erledigung eines umfänglichen Einkaufs in nur einem Ladenlokal beziehungsweise nur an einem POS. Ob das Verbot von MAP daher gerade auch im Lebensmitteleinzelhandel im Saldo tatsächlich zu geringeren Verbraucherpreisen führt, ist weder durch unabhängige Studien belegt noch intuitiv.

Des Weiteren ist die isolierte Betrachtung einzelner niedriger Verbraucherpreise ungeeignet, die wettbewerblichen Effizienzen vollumfänglich zu erfassen. Kommt es zu Preissteigerungen in der Lieferkette und können diese nicht zumindest teilweise weitergegeben werden, selbst wenn Verbraucher bereit sind, höhere Preise zu akzeptieren, werden die Unternehmen in der Lebensmittellieferkette reagieren müssen, beispielsweise um die Erwartungen ihrer Anteilseigner zu erfüllen und Kosten decken zu können. Die steigenden Kosten müssen dann anders kompensiert werden. Es liegt auf der Hand, dass solche Kosteneinsparungen weniger Spielräume für den Ausbau der Qualität der Produkte lassen. Gleiches gilt in Hinblick auf notwendige Kosten für die Transformation hin zu einer nachhaltigeren Lebensmittelwertschöpfungskette inklusive der Sorgfaltspflichten innerhalb globaler Lieferketten. Gesellschaft und Politik haben dieses Problem längst erkannt, so dass Jahr für Jahr mehr regulatorische Maßnahmen in diesem Bereich auf den Weg gebracht werden (zum Beispiel die Richtlinie gegen unlautere Handelspraktiken, das Lieferkettensorgfaltsgesetz, etc.).

Ob im Saldo möglichst niedrige Werbepreise ausgesuchter Markenartikel gerade im Lebensmittelbereich wirklich einen Effizienzgewinn darstellen, darf mit guten Gründen in Zweifel gezogen werden. In jedem Fall bedarf es einer besseren Studienlage, um einen so erheblichen Eingriff in die Privatautonomie zu rechtfertigen, wie es sich das Bundeskartellamt beim Pauschalverbot der MAP wünscht. Die bislang vorliegenden Schadentheorien reichen hierfür nicht aus.

Welche Schadentheorie zu MAP rechtfertigen eine Ausnahme von der Gruppenfreistellung?

Gerade im Anwendungsbereich der Vertikal-GVO stellt sich die Frage nach einer tragfähigen Schadentheorie für das grundsätzliche Verbot von MAP. Denn die Gruppenfreistellung kommt ohnehin nur dann zum Zuge, wenn die Vertragsparteien auf dem jeweils relevanten Markt für die Vertragsprodukte einen Marktanteil von nicht mehr als 30 % haben. Folglich werden jeweils mindestens 70 % des Marktes von Wettbewerbern bedient.

Insbesondere im Lebensmittelsektor stellen die Einzelhändler Markenprodukte und Eigenmarken teilweise direkt preislich gegenüber und führen dem Verbraucher vor Augen, dass er die (preisliche) Wahl habe, wobei qualitative Unterschiede zwischen den Produkten nicht werblich hervorgehoben werden, sondern diese Aufgabe alleine dem Markenhersteller aufgebürdet wird. Wenn der Verbraucher jedoch auch nach Ansicht des LEH diese Wahl zwischen günstiger Eigenmarke und Markenprodukten hat, ist nicht ersichtlich, wieso ein kartellrechtliches Verbot die Markenhersteller dazu zwingen muss, den Wettbewerb alleine über den Preis, aber nicht über Qualitätsversprechen zu führen. Das werblich induzierte Billigpreisimage auch von Markenartikeln führt im Ergebnis zu weniger Auswahlmöglichkeiten der Verbraucher und zur Einschränkung der qualitativen Ausdifferenzierung der Produkte aus derselben Kategorie.

Die dem Totalverbot von MAP zugrundeliegende Schadentheorie entspringt einer Mentalität der „Geiz-ist-Geil“-Ära, die aus der Zeit gefallen scheint und der Transformation hin zu einer nachhaltigeren Gesellschaft entlang der gesamten Wertschöpfungskette diametral entgegensteht. Es bedarf jedoch hinsichtlich der MAP nicht einmal einer gesetzlichen Änderung, sondern es genügt eine wortlautgetreue Anwendung der Ausnahmevorschrift des Art. 4 lit. a Vertikal-GVO, um zu erkennen, dass reine MAP keine Preisbindung der zweiten Hand und damit im Anwendungsbereich der Vertikal-GVO freigestellt sind. Die deklaratorische Klarstellung der EU-Kommission ist zum Wohle der Rechtssicherheit und im Sinne des Qualitätswettbewerbs zu begrüßen.


Dr. Kim Manuel Künstner berät Lebensmittelhersteller zu allen Fragen des Kartellrechts einschließlich der Vereinbarungen mit Lieferanten und dem Handel und im Rahmen des Transaktionsgeschäfts.


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