Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr genommen und vom Arbeitgeber gewährt werden. Eine Übertragung des Urlaubs in das folgende Kalenderjahr ist in Ausnahmefällen möglich, wenn eine Inanspruchnahme des Urlaubs im Urlaubsjahr aufgrund dringender betrieblicher oder in der Person des Arbeitnehmers liegender Gründe nicht zu gewährleisten ist (§ 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG). Im Falle einer (ausnahmsweise) zulässigen Übertragung verfällt der Urlaub nicht am 31. Dezember des jeweiligen Urlaubsjahres, sondern erst am 31. März des Folgejahres (§ 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG).
So weit, so klar!
Jedenfalls bis November 2018.
Grundsatzentscheidung des EuGHs zu den Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers im Zusammenhang mit der Urlaubsgewährung.
Am 06.11.2018 urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass Unternehmen ihre Mitarbeitenden informieren müssen, wieviel Urlaub ihnen zusteht und dieser bei Nichtinanspruchnahme verfällt (EuGH, Urteil vom 06.11.2018 – C-684/16) und öffnete mit dieser Entscheidung die Büchse der Pandora. Seit dieser Entscheidung ist im deutschen Urlaubsrecht nichts mehr, wie es war. Die aus dieser Rechtsprechung resultierenden Konsequenzen und Folgefragen beschäftigten seitdem die nationalen Gerichte, aber auch immer wieder den EuGH.
Kein Verfall von Urlaubsansprüchen am Ende des Urlaubsjahres oder Übertragungszeitraums ohne vorherige Mitarbeiterinformation.
Auf Grundlage dieser EuGH-Rechtsprechung urteilte das Bundesarbeitsgericht 2019 (Urteil vom 19.2.2019 – 9 AZR 423/16), dass der gesetzliche Urlaub nur dann nach § 7 Abs. 3 BurlG verfällt, wenn der Arbeitgeber seinen aus dem richtlinienkonformen Verständnis von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG resultierenden Mitwirkungsobliegenheiten bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs genügt. Hierfür muss der Arbeitgeber den Mitarbeitenden – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt. Erfüllt der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht, verfällt der Urlaub nicht und der Mitarbeitende kann den Urlaub auch noch nach Ende des Übertragungszeitraums nehmen. Der nicht verfallene Urlaub tritt dann zu dem neu entstehenden Urlaubsanspruch des Folgejahres hinzu. Im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses muss unter Umständen der Urlaubsanspruch mehrerer Jahre abgegolten werden.
Risikobegrenzung durch Verjährung.
Das Risiko ggf. über mehrere Jahre anwachsender Urlaubs(abgeltungs-)ansprüche war bislang allerdings auf drei Jahre begrenzt, denn der Urlaubsanspruch unterliegt gemäß § 194 Abs. 1 BGB, § 195 BGB der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren, deren Lauf unter den in § 199 Abs. 1 BGB genannten Voraussetzungen mit dem Schluss des jeweiligen Urlaubsjahres beginnt.
Also selbst dann, wenn der Urlaubsanspruch nicht nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen ist, verjährt er drei Jahre nach dem Ende des jeweiligen Urlaubsjahres.
Ob die Verjährung auch dann greift, wenn der Arbeitgeber seiner oben beschriebenen Mitwirkungsobliegenheit nicht genügt hat, war bislang nicht höchstrichterlich geklärt.
Diese Frage hatte 2020 das Arbeitsgericht Solingen und in zweiter Instanz das Landesarbeitsgericht Düsseldorf (LAG Düsseldorf Urteil vom 02.02.2020 – 10 Sa 180/19) zu entscheiden. In diesem Rechtsstreit nahm die Klägerin ihren Arbeitgeber auf Abgeltung von nicht genommenem Resturlaub aus dem Jahr 2014 und den Vorjahren in Anspruch. Der Urlaubsanspruch der Klägerin war nicht nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen, da es der beklagte Arbeitgeber versäumt hatte, die Klägerin aufzufordern, ihren Urlaub rechtzeitig im Urlaubsjahr zu nehmen und sie auf den andernfalls eintretenden Verfall der Urlaubsansprüche hinzuweisen. Der Arbeitgeber erhob im Laufe des Prozesses die Einrede der Verjährung und machte geltend, dass für die Urlaubsansprüche, deren Abgeltung die Klägerin verlange, die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgelaufen sei.
Das LAG Düsseldorf folgte dieser Auffassung nicht und verurteile den Arbeitgeber zur Abgeltung des nicht genommenen Resturlaubs.
Auf die Revision des Arbeitgebers rief das Bundesarbeitsgericht den EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren an und legte die Frage vor, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, der aufgrund unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers nicht bereits nach § 7 Abs. 3 BurlG verfallen konnte, gemäß § 194 Abs. 1 BGB, § 195 BGB der Verjährung unterliegt.
Diese Frage muss der EuGH entscheiden.
Entscheidungsvorschlag des Generalanwalts am EuGH.
Der Generalanwalt am EuGH hat zu dieser Frage am 05.05.2022 einen Entscheidungsvorschlag vorgestellt (Schlussantrag vom 05.05.2022, C-120/21). Und dieser Entscheidungsvorschlag lässts nichts Gutes erahnen. Jedenfalls für Arbeitgeber.
Der Generalanwalt vertritt die Auffassung, dass der Urlaubsanspruch erst verjähren kann, wenn der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist. Tut er dies nicht, verjähren die Urlaubsansprüche nicht und können bis zum Sankt-Nimmerleinstag – also zeitlich unbegrenzt – genommen werden. Im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses sind die bis zur Beendigung aufgelaufenen Urlaubsansprüche finanziell abzugelten. Der Arbeitgeber trägt zudem die Beweislast für die ordnungsgemäße Information des Mitarbeitenden.
Der EuGH muss sich diesem Vorschlag nicht anschließen, tut es aber regelmäßig.
Konsequenzen für die Praxis.
Kaum ein Arbeitgeber hat seine Mitarbeitenden vor der Grundsatzentscheidung des EuGHs im Jahr 2018 aufgefordert, bestehende Resturlaubsansprüche im jeweiligen Kalenderjahr abzubauen und auf einen andernfalls drohenden Verfall hingewiesen. Mangels entsprechenden Hinweises des Arbeitgebers sind jedenfalls die vor 2018 entstandenen Urlaubsansprüche nicht nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen. Schließt sich der EuGH dem Entscheidungsvorschlag des Generalanwalts an, sind diese Ansprüche auch nicht verjährt, können also nach wie vor genommen oder müssen im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgegolten werden. Zeitlich unbegrenzt!
Denn Arbeitgeber können sich auch nicht auf einen Vertrauensschutz hinsichtlich der geänderten EuGH-Rechtsprechung berufen.
Für Arbeitgeber entstehen damit erhebliche wirtschaftliche Risiken aus den in der Vergangenheit nicht genommenen Urlaubsansprüchen ihrer Mitarbeitenden. Es droht eine Klagewelle und erheblicher Unfrieden in den Unternehmen.
Ob sich der EuGH dem Vorschlag des Generalanwalts anschließt, bleibt abzuwarten. Wir werden berichten!
Thorsten Walter berät nationale und internationale Unternehmen umfassend im Bereich des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts und angrenzender Rechtsgebiete.