Der BGH hat in seinem Urteil „Schienenkartell II“ (KZR 24/17) die Beweismaßstäbe für die haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität konkretisiert. Gegenüber der bisherigen Entscheidungspraxis mancher Land- und Oberlandesgerichte ergibt sich eine erfreuliche Erleichterung zugunsten von Kartellgeschädigten. Die Bedeutung der Kartellbetroffenheit rückt auch vor dem Hintergrund der aktuellen Entscheidungspraxis des EuGH vollkommen in den Hintergrund. Im Rahmen der Schadensschätzung nach § 287 ZPO ermutigt der BGH die Instanzengerichte seitenweise, mehr Gebrauch von der durch die Norm eingeräumten Freiheit zu machen.

Tatsächliche Auswirkung für Kartellbetroffenheit nicht maßgeblich.

Kartellbeteiligte stützen sich im Kartellschadensersatzprozess gerne auf das Argument, die eingeräumte Kartellabsprache habe sich beim konkreten Kartellschadensersatzkläger nicht ausgewirkt und er sei daher nicht „kartellbetroffen“. Zudem obliege es dem Kartellgeschädigten, anhand des Maßstabs des § 286 ZPO den Vollbeweis für die Kartellbetroffenheit und damit die konkrete Auswirkung des Kartells darzulegen und zu beweisen.

Dieser Argumentation, der teilweise auch Land- und Oberlandesgerichte gefolgt sind, hat der BGH eine direkte Absage erteilt. Demnach ist für die Kartellbetroffenheit alleine maßgeblich, ob „dem Anspruchsgegner ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten anzulasten ist, das […] geeignet ist, einen Schaden des Anspruchstellers mittelbar oder unmittelbar zu begründen.“ Ausdrücklich nicht zur Kartellbetroffenheit gehört die Frage, „ob sich die Kartellabsprache auf den in Rede stehenden Beschaffungsvorgang, auf den der Anspruchsteller sein Schadensersatzbegehren stützt, tatsächlich ausgewirkt hat und das Geschäft damit in diesem Sinn "kartellbefangen" war“.

Um alle Zweifel auszuschließen, betont der BGH zudem, dass, soweit sich aus der Entscheidung Schienenkartell I etwas anderes ergeben sollte, hieran nicht mehr festgehalten werde.

Die Darlegung der Kartellbetroffenheit dürfte daher in der Zukunft keine besondere Erschwernis für Kartellgeschädigte darstellen. Sie ist auf eine Evidenzkontrolle von vorneherein völlig aussichtsloser Ansprüche reduziert. Dies ist aufgrund der „Jedermann“-Rechtsprechung des EuGH auch geboten. Konsequent wäre es freilich, der deutsche Gesetzgeber gebe das Kriterium insgesamt auf.

Richter sollen Freiheiten für Schätzung von Kartellschäden ausschöpfen.

Ist damit endgültig klargestellt, dass bereits „der erste Schaden“ am Maßstab der Schadensschätzung nach § 287 ZPO zu bestimmen ist, sieht sich der BGH angesichts der bislang sehr zurückhaltenden Entscheidungspraxis der Vorinstanzen auch genötigt, die Richter zu stärkeren Ausschöpfung der Freiheiten zu ermutigen, die § 287 ZPO gewährt.

Insbesondere betont der BGH, dass die Haupttatsache eines geringeren hypothetischen Wettbewerbspreises einem direkten Beweis in aller Regel nicht zugänglich ist und auch ökonomische Sachverständigengutachten in der Regel nur auf Indizienbeweise abstellen können. Die Tatrichter seien im Anwendungsbereich des § 287 ZPO besonders freigestellt. Es ist insbesondere nicht notwendig, jeden angebotenen Beweis zu erheben, da ein unmittelbarer Beweis der Haupttatsache (hypothetischer Wettbewerbspreis) regelmäßig ohnehin ausscheide. Bei hinreichender Grundlage für ein Wahrscheinlichkeitsurteil, könne der Tatrichter von einer weiteren Beweisaufnahme absehen. Die Vorlage von Privatgutachten verpflichte den Tatrichter nicht in jedem Fall zur Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens.

Absage an Anscheinsbeweis erneuert.

Vor dem Hintergrund der Neuordnung der Beweismaßstäbe im Kartellschadensersatzprozess, ist die neuerliche Absage des BGH an die Anwendung des Anscheinsbeweises in diesen Verfahren lediglich eine Randnotiz. Die Rechtsfigur passt mangels Typizität der Kartelle nicht auf derartige Prozesse. Kartellrechtliche Erfahrungssätze sind im Rahmen der Beweiswürdigung abzuwägen.

Fazit.

Der BGH fegt die Scherben zusammen, die er mit dem ersten Schienenkartell-Urteil teilweise erst erzeugt hat. Der Gerichtshof hinterließ mit dem bloßen Abräumen des Anscheinsbeweises ohne Konkretisierung der Beweismaßstäbe ein Vakuum, das er nunmehr selbst sachgerecht ausfüllt.


Dr. Kim Manuel Künstner berät Unternehmen in allen Fragen des Kartellrechts.


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